Newsnational Dienstag, 22.10.2019 |  Drucken


Emine Demirbüken-Wegner MdB, Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Jugend und Familie Berlin
Emine Demirbüken-Wegner MdB, Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Jugend und Familie Berlin

Emine Demirbüken-Wegner: Einsamkeit, Isolation und Anonymität bereiten große Probleme

"Mehr als 300 unentdeckte Todesfälle im Jahr und immer mehr Menschen, die verstummen, weil niemand mit ihnen spricht", so Wegner im Interview mit islam.de

Die Muslima Emine Demirbüken-Wegner zog erstmals 2006 in das Berliner Abgeordnetenhaus ein. Von 2011 bis 2016 übte die CDU-Politikerin das Amt der Staatssekretärin in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit aus. 2011 gewann sie ihren Wahlkreis Berlin-Reinickendorf direkt. Erstmals gewann damit in der Geschichte der CDU in Deutschland ein muslimischer Kandidat einen Wahlkreis direkt. 2016 holte Emine Demirbüken-Wegner erneut ihren Wahlkreis direkt. Die zweifache Mutter und ausgebildete Journalistin wandte sich kürzlich mit den Themen „Alleinsein, Isolation und Anonymität“ an die Öffentlichkeit. Islam.de sprach mit der Parlamentarierin, die den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie im Berliner Abgeordnetenhaus leitet.

Islam.de: Liebe Frau Demirbüken-Wegner, Sie weisen darauf hin, dass immer mehr Menschen, insbesondere Seniorinnen und Senioren, hierzulande unter Einsamkeit leiden. Wie kann man das belegen?

Emine Demirbüken-Wegner: „Wer mit offenen Augen durch Berlin und andere deutsche Großstädte geht, wird feststellen, dass das Leben zunehmend von sozialen Problemen geprägt wird, die aus Einsamkeit, Isolation und Anonymität erwachsen. Nicht nur, dass Berlin die Hauptstadt der Single-Haushalte ist, viele Menschen verlieren dazu noch die Kontakte zur Familie, zu den Arbeitskollegen, zu Vertrauten und guten Bekannten. Die Gründe dafür können sehr verschieden sein. Sie reichen vom Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess bis zum Verlust von Angehörigen, Zerbrechen von Beziehungen oder Krankheit. Es gibt mehr als 300 unentdeckte Todesfälle im Jahr, mehr psychiatrische Erkrankungen, eine steigende Suizidrate und immer mehr Menschen, die verstummen, weil niemand mit ihnen spricht. Davon ist in Berlin mittlerweile jeder 10. Einwohner betroffen.

„Indem wir alle mehr Aufmerksamkeit und Respekt gegenüber unseren Mitmenschen entwickeln. Dann werden wir auch schnell entdecken, was Not tut! Sei es nun ein fröhliches „Guten Morgen“, kleine Handreichungen, Begleitdienste oder Gespräche.", so Frau Wegner.

Wer mit offenen Augen durch Berlin und andere deutsche Großstädte geht, wird feststellen, dass das Leben zunehmend von sozialen Problemen geprägt wird, die aus Einsamkeit, Isolation und Anonymität erwachsen.

Überdies haben Untersuchungen ergeben, dass bei den Menschen im Alter von 45 bis 84 Jahren zwischen 2011 und 2017 die Einsamkeitsquote um 15 Prozent mit all ihren gesundheitlichen und sozialen Risiken zugenommen hat. Einsamkeit ist daher kein Einzelfall mehr, sondern zu einem weit verbreiteten Phänomen geworden, über das allerdings immer noch ungern gesprochen wird.“

Islam.de: Welche Forderungen stellen Sie aufgrund der gerade geschilderten Situation und der alarmierenden Zahlen?

Emine Demirbüken-Wegner: „Das Thema Einsamkeit und Isolation braucht mehr Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit. Dazu gehört, dass die Betroffenen viele unterschiedliche niedrigschwellige Angebote erhalten, mit denen sie aus dieser quälenden Situation herausfinden können. Zwar gibt es schon diese oder jene Anlaufstelle, wie zum Beispiel die Telefon-Hotline „Silbernetz“, aber das ist in einer Mehr-Millionen-Stadt wie Berlin viel zu wenig. Deshalb fordern wir ein stadtweites Bündnis gegen Einsamkeit, einen Runden Tisch, mit dessen Hilfe sich Akteure vernetzen können sowie eine Ehrenamtskampagne zur Gewinnung von Berlinerinnen und Berlinern, die sich dem Kampf gegen Isolation und Einsamkeit zur Verfügung stellen.“

Islam.de: In Großbritannien gibt es ein Ministerium, das ausschließlich für einsame Menschen zuständig ist. Stellen Sie sich ein solches Ministerium auch für Deutschland vor?

Deshalb fordern wir ein stadtweites Bündnis gegen Einsamkeit, einen Runden Tisch, mit dessen Hilfe sich Akteure vernetzen können sowie eine Ehrenamtskampagne zur Gewinnung von Berlinerinnen und Berlinern, die sich dem Kampf gegen Isolation und Einsamkeit zur Verfügung stellen.

Emine Demirbüken-Wegner: „Ich muss zugeben, dass ich eine solche Einrichtung auch für Deutschland für sehr sinnvoll halte. Allerdings sollten wir erst einmal die Probleme vor der eigenen Haustür angehen. Deshalb hat meine Fraktion die Stelle für eine/einen Einsamkeitsbeauftragten für die Stadt Berlin beantragt. Die/der Einsamkeitsbeauftragte soll der Senatskanzlei zugeordnet und vor allem mit koordinierenden und vernetzenden Aufgaben betraut werden. Damit wollen wir erreichen, dass Angebote, Initiativen und Maßnahmen für einsame und isolierte Menschen verbessert, ausgebaut und entsprechend den Bedarfen weiter bzw. neu entwickelt werden.“

Islam.de: Man soll ja nicht unbedingt alles in die Hände des Staates legen. Was kann jeder Einzelne tun - insbesondere die Jüngeren - um Einsamen konkret zu helfen?

Emine Demirbüken-Wegner: „Indem wir alle mehr Aufmerksamkeit und Respekt gegenüber unseren Mitmenschen entwickeln. Dann werden wir auch schnell entdecken, was Not tut! Sei es nun ein fröhliches „Guten Morgen“, kleine Handreichungen, Begleitdienste oder Gespräche. Aufmerksamkeit und Respekt werden weitestgehend verhindern, dass Hilfen aufgedrängt werden. Aufmerksamkeit und Respekt werden vor allem Vertrauen und Zuwendung wachsen lassen. Das sind die besten Mittel gegen Isolation und Einsamkeit.“

Islam.de: Vielen Dank für das Gespräch.

Emine Demirbüken-Wegner: „Auch ich möchte mich für das Gespräch bedanken.“ 

(Das Gespräch führte Volker-Taher Neef)




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